Die Handlung beim Rollenspiel 2.0 – „Storytelling“ und Immersion für Fortgeschrittene: Ein Erlebnisbericht

Handlung als Primat im Rollenspiel?

Seit einiger Zeit schon gewinne ich meine Rollenspielfreude (als Spieler) aus der Charakterdarstellung. Daher auch die Mühe, neue Charaktere zu erstellen – sie müssen mich in der Darstellung wirklich begeistern. Jüngst wurde mir klar, dass mein Fokus auf der Charakterdarstellung zumindest teilweise daran liegt, dass mich die Handlung in vielen Fällen nicht mehr überwältigen kann – ich habe einfach schon zu viel gesehen. Auch auf dem Liverollenspiel war es (bewusst) schon seit langem ein Trick, eine als weniger gut gelungene Veranstaltung durch eigenes Rollenspiel auszugleichen.

Jüngst aber wurde ich verblüfft: Vor einiger Zeit schon wurde ich (zusammen mit einigen anderen) von einem mir vormals unbekannten Spielleiter angesprochen, ob wir Lust hätten, sein System mal zu probieren. Der Kontakt kam über einen Spieler, den ich schätze und so sagten ein paar Freunde und ich zu.

Dieser Spielleiter wollte ein cineastisches Rollenspiel in der Tradition der Filme Christopher Nolans anbieten. In der Jetztzeit. Nun war ich mir keiner Filme Christopher Nolans bewusst (ich weiß mittlerweile, dass ich welche kenne) und bin daher eher in die Sache hineingestolpert. Das sollte sich als äußert lohnenswert herausstellen.

Die Handlung war anders als Vieles, was ich vom Rollenspiel bislang kannte. Mir war mein Charakter bekannt (ich hatte ihn selbst gewählt) und dass wir mehr oder weniger in der Jetztzeit auf der Erde spielen. Sonst nichts. Das Spiel begann unmittelbar in einer dynamischen Szene – ohne dass mein Charakter wusste, warum er da war und auch, ohne die anderen zu kennen.

Das Spiel zeichnete sich auch später durch abrupte Szenenwechsel aus – wie es sonst in einem Film mitunter vorkommt. Hierbei war es regelmäßig so, dass uns Spielern unklar war, warum ein „Schnitt“ erfolgte und wo wir plötzlich waren. Der guten Form halber sei erwähnt, dass die Handlung auch sehr gut durch Filmmusik hinterlegt war und viele Nichtspielerfiguren ein Porträt hatten, dass der Spielleiter zeigen konnte.

Am Ende löste sich alles fulminant auf – die losen Enden wurden verknüpft und mit einer besonders verblüffenden Entdeckung endete die Kurzkampagne. Ich war wirklich begeistert ob des Finales und wie sich alles zusammenfügte. Noch einige Tage sinnierte ich hierüber.

Ich war jedenfalls begeistert. Und das in erster Linie der Handlung wegen – so etwas kannte ich nicht. Mein Charakter war zwar auch ganz nett – aber das war sicherlich nicht, was die Erfahrung prägte. Dies im Blick – was kann ich daraus lernen? Gerade, weil ich häufig selbst Spielleiter bin. Folgende Punkte dürften entscheidend sein:

  • Verwendung der realen Welt als Handlungsort
  • Plötzliche Wendungen in der Geschichte
  • Nicht-linearer Handlungsverlauf

Verwendung der realen Welt als Handlungsort

Das Spiel auf der „realen Erde“ als Spielwelt geht zunächst mal mit Nachteilen einher: Die Realität ist für viele im Vergleich zu Phantasiewelten vermutlich trist – warum sonst spielen die meisten Rollenspiele in einer übernatürlichen oder Science Fiction-Welt?

Allerdings hat ein Spiel in der Realwelt einen unschlagbaren Vorteil: Das Quellenmaterial ist wirklich sehr umfassend! Und hiervon machte der Spielleiter reichlich Gebrauch. Insbesondere wählte der Spielleiter nicht nur historische (reale) Ereignisse unserer Welt als Bestandteile seiner Spielwelt, die jeder kennt und sich in sich das kollektive Gedächnis eingebrannt haben. Plötzlich erschienen diese in einem ganz neuen Licht – als Sicht des Plots war die neue Erklärung überaus überzeugend, ja zwingend (wer sich ein wenig an Verschwörungstheorien erinnert fühlt, liegt wohl ganz richtig).

Der Bezug auf die Realwelt war daher ein Grund für die Plastik des Rollenspiels und der Immersion keinesfalls abträglich.

Plötzliche Wendungen in der Geschichte

Es ist sicherlich keine Innovation per se, die Handlung durch Überraschungen und Wendungen anzureichern und spannend zu machen. Aber die Umsetzung dieser einfachen Erkenntnis ist oft schwierig und erfordert viel Nachdenken und frische Ideen. Aber auch hier brillierte der Spielleiter.

Bei der ex post-Betrachtung dieser meine ich aber ein, zumindest potentielles, Problem auszumachen: Sie könnten sich verbrauchen. Mit anderen Worten: Unerwartete Geschichten zu schaffen wird immer schwieriger. Chapeau dem, der es hier geschafft hat.

Nicht-linearer Handlungsverlauf

Ich kenne Rollenspiel im Grunde nur so, dass man zu einem Zeitpunkt in die Handlung einsteigt und alle Ereignisse danach hierauf aufbauen und daher in aller Regel auch chronologisch sind. Zeitreisen stehen hierzu in keinem Widerspruch, weil diese in der Regel entweder in eine Zeit führen, die keine Berührung mit der „Gegenwart“ hat und zum anderen immer Ergebnis von Handlungen in der Gegenwart sind. Sie bauen also auf den vorhergehenden Ereignissen auf und sind hierdurch für die Spieler nachvollziehbar.

Nicht so hier: Das Spiel bestand aus Szenen, die zunächst eohne Zusammenhang zu sein schienen. Erst im Laufe der Handlung (und zwar eher zum Ende hin), setzten sich die Puzzlestücke zusammen. Das war bemerkenswert!

Allerdings war die Handlung meist so gestrickt, dass die Charaktere ihr Gedächtnis aus verschiedenen (und plausiblen) Gründen zu Beginn der jeweiligen Handlungsversatzstücke nicht oder nur teilweise hatten. Das kann man zwar als Spielleiter so gestalten – aber zu häufig sollte man dieses Stilmittel wohl nicht verwenden, denke ich. Und anders geht es vermutlich nicht: Wenn, alternativ, die Spieler einen künftigen Handlungsteil spielen ohne die Vorgeschichte dazu gespielt zu haben, und daher das Wissen hieraus nicht haben (die Charaktere aber schon), wird es paradox. Daher ist ein nicht-linearer Handlungsverlauf aus praktischen Gründen aus meiner Sicht nur selten möglich.

Zudem geht dieses Elementmit einem Nachteil einher: Wenn den Spieler klar wird, dass eine bestimmte Szene eine bereits gespielte bedingt, werden die Handlungen der Charaktere de facto dahingehend eingeschränkt, dass die Szene auch wirklich zur nächsten führt. Dies limitiert die für mich sehr wichtige Entscheidungsfreiheit der Spieler beziehungsweise Charaktere.

Fazit

Für mich war das Rollenspielerlebnis wirklich bemerkenswert und ich bin dankbar, dabei gewesen zu sein. Falls einer der werten Leserschaft je die Möglichkeit haben sollte „Die Sache Benjamin“ zu spielen – nutzt die Chance!

Und vielleicht kann man das Erlebnis ja mit großartiger Charakterdarstellung kombinieren…