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Kompliziertheit von Spielsystemen als Folge von Simulationismus?

Vor allem meine Behauptung, Battletech sei wenig komplex, führte zu kontroversen Reaktionen. Ich habe mir daher Gedanken gemacht, wie ein Regelwerk gestaltet sein müsste, um, in meinem Sinne, komplex zu sein. Hierbei greife ich auf viele Überlegungen zurück, die mit einigen Freunden zusammen vor Jahren angestellt wurden und für diesen Beitrag rekapituliert und erweitert wurden. Vielen Dank hierfür!

Grundsätzlich erfolgt die Würdigung bei mir vor dem Hintergrund des Simulationsmus. Wie ich an anderer Stelle schilderte, bin ich ein simulationistischer Spieler. Diese Einschränkung ist vornehmlich für Rollenspielsysteme von Belang.

Simulationismus möchte, nach meinem Verständnis, „unlogische“ Regelungen verhindern (z.B. sicherstellen dass bei einem Rollenspiel ein Charakter mehr als eine Waffe tragen darf – gleichzeitig aber nicht etwa 30). Oft wird in Folge ein möglichst weiter Möglichkeitenraum gefordert, der von dem Regelwerk abgedeckt werden sollte. Notfalls könnte (im Falle eines Rollenspiels) auch der Spielleiter Regeln aus dem bestehenden Regelwerk festlegen.

Die Gewährleitung einen möglichst großen Möglichkeitenraum abzudecken, führt, in der hier verwendeten Nomenklatur, zu einem komplexen Spielsystem.

Demgegenüber wird ein Spielsystem auch kompliziert, wenn Regeln zur Erreichung dessen den Spielfluss (subjektiv) hemmen, weil (auch) einfache Aktionen „verregelt“ werden oder über die richtige Anwendung der Regeln diskutiert oder nachgeschlagen werden muss.

In diesem Sinne könnte der Obersatz sein:

Die Abbildung der Spielwelt sollte über ein komplexes, nicht aber kompliziertes Regelwerk geschehen.

Anders gewendet heißt dies, dass der Aufbau der Regeln möglichst einheitlich sein sollte, die Regeln sich aber inhaltlich aber wenig (idealerweise gar nicht) überschneiden.

Eine „Entschlackung“ des Regelwerks sollte daher Komplexität wahren und Kompliziertheit abbauen.

In der Praxis kommt es zudem dazu, dass die Regeln strukturiert verfügbar sein sollten und nicht über mehrere Quellen verteilt. Auch dies macht ein System kompliziert – und zwar immer ohne irgendetwas für die Komplexität gewonnen zu haben.

Im Folgenden einige Beispiele anhand simulationistsicher Systeme. Hierbei wird untersucht, ob diese komplex oder (auch) kompliziert sind.

  • DSA ist ein simulationistisch orientiertes System. Den Spieler(charakteren) stehen viele Handlungsoptionen zur Verfügung – und die meisten davon sind in Regeln gegossen – bis hin zun Skurillen. Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht sind die Unterwasserreiterkampfregeln aus DSA 4.1 – diese sind nur für Randsituationen relevant. Die Regeln, wie lange der Brennvorrat für ein Lagerfeuer reicht, noch seltener. Damit ist das System in jedem Fall komplex – de facto aber auch kompliziert:
    • Bei DSA 4 waren die Regeln für übernatürliches Wirken für klerikale Mächte anders geregelt als für magische Mächte. Obgleich diese Mächte in der Welt verschieden sind, gibt es für eine unterschiedliche Regelung keinen Grund. Die Regeln sind insofern weder überschneidungsfrei noch inhaltlich gleich aufgebaut. DSA 5 kennt sowohl den Wert der übrigbehaltenen Talentpunkte als auch die Qualitätsstufe als Maß für die Qualität einer gelungenen Probe. Dies ist eine Dopplung, für die es keine inhaltliche Rechtfertigung gibt – zumal sich die Qualitätsstufe aus den übrigbehaltenen Talentpunkten errechnet. Hier sieht man ein gutes Beispiel unnötiger Kompliziertheit.
    • Zudem verfolgt DSA 5 bislang eine Publikationsstrategie mit hoher Redundanz. Viele Regeln sind repetitiv aufgeführt, andere über mehrere Werke verteilt. Mit den Kodex-Bänden könnte das besser werden. Die 3W20-Probe ist aus simulationistischer Sicht der 1W20-Probe, die ebenfalls zum Einsatz kommt, deutlich überlegen. In beiden Fällen ist der Erwartungswert 10,5. Im Falle der 1W20-Probe ist die Standardabweichung aber 5,8; bei der 3W20-Probe nur 3,3. Zudem ist bei der 1W20-Probe jedes Ergebnis gleich warhscheinlich. Die niedrigere Standardabweichung und Nicht-Gleichverteilung der Ergebnisse ist vorziehenswürdig, weil sonst (bei der 1W20-Probe) die Wahrscheinlichkeit auch für einen erfahrenen Charakter recht hoch ist, auch eine unmodifizierte Probe nicht zu schaffen. Das ist unrealistisch. Demgegenüber steht, dass die 3W20-Probe für Anfänger etwas schwerer zu lernen ist.
    • Die Zahl der Talente ist sehr umfassend und keineswegs überschneidungsfrei (Akrobatik, Athletik, Körperbeherrschung) oder decken ein zu großes Spektrum ab (Überreden, was Lügen, Feilschen und Vertuschen umfasst). Letzteres ist aber eher ein gamistischer Aspekt.
  • Shadowrun stellt von der Spielweltanlage schon den Anspruch an ein komplexes Regelwerk. Es musste immerhin drei Dimensionen abbilden: Physische Welt, Astralraum und Matrix. Damit geht schon eine gewissen Kompliziertheit einher – aber gegeben die Erfordernisse hält es sich, für meine Begriffe, im Rahmen. Allerdings kann ich nur für Shadowrun bis zur vierten Edition sprechen – die neueren Editionen kenne ich nicht. Shadowrun 3 war durch die „explodierenden“ Würfel unschön, weil hierdurch bei vergleichenden Proben die erwartbare Zahl der Erfolge immer niedriger wurde, je höher die Werte waren – und zwar auch dann wenn die Kontrahenten die gegeneinander probten, gleich hohe Werte hatten. Dies lag daran, dass die Standardabweichung bei höheren Werten immer größer wurde. Simulationistisch ist dies als unschön zu werten.
  • Warmahordes ist hoch komplex. Jedoch ist die Grundmechanik simpel und ermöglicht sehr viel. Die 2W6-Probe ist auch aus statistischer Sicht gut (auch hier liegt eine statistisch schöne Verteilung vor). Das Spiel wird meines Erachtens weniger durch die Sonderregeln der Modelle kompliziert (die stehen immerhin auf der Karte und haben konsitente Bezeichnungen) als mehr dadurch, dass man wirklich gut über alle (!) Modelle mit Sonderregeln informiert sein muss, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden. Es zeigen sich aber auch Nachteile:
    • Die MK3-Kavallieregeln sind nicht konsistent mit den anderen Mechaniken, da Bewegungs- und Angriffsphase vermengt werden.
    • Die MK4-Bewegungesregeln, sind ein gutes Beispiel dafür, wie man es bei einer Regelentschlackung nicht macht: Während früher jede Figur der Einheit bewegte, wird nun (nur) eine Figur bewegt und die anderen werden um diese herum teleportiert. Hierdurch wurde dem Spiel viel simulationistischer Anspruch und Komplexität genommen. Gleichsam ist die neue Regelung ebenfalls (oder noch mehr) kompliziert, weil sie nicht in das sonstige Regelwerk passt und per se schon kontraintuitiv ist.
  • Battletech ist aus meiner Sicht bedingt komplex.
    • Insgesamt gibt es Regeln für das Meiste, was man mit einem Battlemech anstellen möchte. Gleichwohl sind die Grundmechaniken recht simpel und, zumindest im Kampfe (nur) mit Mechs redundanzfrei. Die vielen Waffensysteme, die insbesondere die Mechs verschieden machen, sind auf dem Mech-Bogen alle verzeichnet.
    • Es gibt jedoch beispielsweise Unzulänglichkeiten bei der Deckung: Ein Berg gibt nur Deckung, wenn man direkt dahinter steht. Ein Kopftreffer ist unplausibel wahrscheinlich, wenn man diese Deckung hat, aber dennoch getroffen wird (Erschwernis aus Deckung: +1 (früher +3), dann aber Chance von 1/6 statt 1/36 auf Kopftreffer). Das Spiel ist insofern sogar unterkomplex. Das Spiel ist auch in anderer Hinsicht unplausibel (und damit simulationistisch schlecht): Bodenfahrzeuge mit Verbrennungsmotor sind Fahrzeugen mit Fusionsreaktor insofern überlegen, da erstere keine Wärme aufbauen. Die Unterscheidung ist unnötig kompliziert und gleichsam unlogisch.
    • Gleichsam verfügen die Waffen der Charaktere aus dem Rollenspiel zudem über eine größere Reichweite als die der Battlemechs – die zudem grundsätzlich über eine unrealistisch kurze Reichweite verfügen (Eine ER PPK [Extremreichweiten Partikelprotektorkanone] schießt gerade mal 690 Meter weit. Alles klar. Und die Waffensysteme sind auch sehr unpräzise was die Zielgenauigkeit betrifft, wenn man sie mit Waffen der realen Gegenwart vergleicht.
  • Warhammer 40k habe ich selbst nie gespielt. Mir wird aber unisono mitgeteilt, dass die Sonderregen Legion sind, sich regelmäßig ändern, in sich unschlüssig sind und überall verteilt stehen. Daher ist Warhammer 40k sowohl als komplex und mehr noch auch als kompliziert anzusehen.
  • Demonworld (wer noch weiß, was das ist?), ist meines Erachtens zwar komplex, aber wenig kompliziert.
    • Als ich das vor ein paar Wochen wieder mal spielte, war ich überrascht, wie elegant das System doch ist. Es gibt Formationen, Moralwerte, Magie, Sondermodelle und Vieles mehr – aber alles ist gut handhabbar und in (relativer) Kürze erlernbar. Redundanzen gibt es kaum. Das System leidet nur an einer etwas ungünstigen Mechanik mit nur einem W20 und der damit einhergehenden Standardabweichung beziehungsweise Gleichverteilung. Das mag bei den Angriffen einer ganzen Einheit zu verschmerzen seien. Bei dem Angriff eines sog. Großelements, wie einem Riesen oder bei dem Wirken eines Zaubers ist dies aber unschön, weil man so eine hohe Chance hat, dass selbst der erfahrene Magier oder Riese erfolglos ist.
    • Zudem, aber das ist jenseits des hier Interessierenden, ist die Spieltiefe insofern gering, als dass sich die verschiedenen Truppen nur anhand ihrer Werte aber weniger anhand von Sonderfertigkeiten unterscheiden und zudem auch nur bedingt Synergien zwischen diesen bestehen.
  • Dungeons & Dragons ist ein schwieriger Fall.
    • Das System hat ebenfalls einen simulationistischen Anspruch. Auch ist das Regelwerk in zahlreichen Szenarien, Welten und Hintergründen präsent. Dies macht deutlich, dass es komplex genug ist um Vieles abzubilden. Allerdings ist es mitunter unterkomplex, weil es zum Beispiel verbietet, dass ein Magier ein Zweihandschwert führt – man fragt sich, was denn ist, wenn er es einfach tut…? Solche Setzungen sind simulationistisch nicht begründbar. Zudem ist die 1W20-Probe eine sehr schlechte Spielmechanik, die zudem aber immerhin konsistent durchgezogen ist. Gleichwohl ist es wenig befriedigend, wenn ein schlechtes Konzept überall seinen Widerhall findet. In diesem Fall führt die hohe Standardabweichung und Gleichverteilung der Ergebnisse zu einer zu großen Streuung, so dass auch fähige Charaktere oft in Standardsituationen scheitern.
    • Unter „ferner liefen“ kann man noch einsortieren, dass Talente mitunter von den falschen Attributen („Ability Scores“) beeinflusst werden. So ist es zum Beispiel nicht naheliegend, dass die Trefferwahrscheinlichkeit mit einer Waffe von der Stärke des Kämpfers und nicht von der Geschicklichkeit abhängt. In gleicher Weise sind die Talente („Skills“) selbst deutlich kompliziert, was sich besonders gut im dem Metatalent „Dungeoneering“ der vierten Edition zeigt, dass nicht überschneidungsfrei zu zahlreichen anderen Talenten war. Unterkomplexität kommt hinzu, weil für viele Fertigkeiten kein passendes Talent existiert (z.B. Kutsche fahren).

Ich hoffe, hierdurch wird ein wenig ersichtlich, zumindest im Quervergleich, warum ich Battletech als wenig komplex einschätzte – ich bezog mich hierbei auf die 3025er-Technologiestufe und das Spiel nur mit Battlemechs. In jedem Fall sehe ich nicht, dass Battletech kompliziert ist.

Wie könnte nun ein gutes, im Sinne des vorstehenden Obersatzes, System ausgestaltet sein? Ein Freund von mir entwickelte ein Solches. Es wurde für Dark Heresy und Shadowrun konzipiert. Diese Welten zeichnen sich per se durch den Anspruch einer hohen Komplexität aus, da, wie erwähnt, verschiedene Dimensionen abgebildet werden müssen. Im Kern basiert dieses System auch einer Mechanik, die in ähnlicher Weise bei Fate zu finden ist. Der Mindestwurf ist immer Null. Der Talentwert des Charakters liegt regelmäßig leicht darüber, kann aber durch Zu- und Abschläge verändert werden. Geprobt wird mit 10W6, wobei jeder W6 nur, je zweimal, Plus, Minus und Neutral anzeigt. Ein Plus ist dem Talentwert hinzuzuschlagen, ein Minus zu subtrahieren. Ein neutraler Wert verändert nichts. Jeder Würfel verändert damit im Erwartungswert den Talentwert nicht – und auch alle Würfel zusammen tun dies nicht. Gleichwohl gibt es ein gewisses Zufallselement. Dieser Mechnismus kann auf sämtliche Proben angewendet werden und ist daher nicht kompliziert. In Anlehnung an DSA oder Dungeons & Dragons wird der initiale Talentwert um die Werte der Eigenschaften oder „Ability Scores“ modifiziert. Längst nicht alle Probleme sind hiermit gelöst – aber die Grundmechanik ist besser als alle Obenstehenden.

Ausführliche Informationen dazu gibt es hier:

https://drive.google.com/drive/folders/1ydz3-qTO_jKPPjNVeZy6WbslHxl-cCNV

Ich werde mir Gedanken machen, wie man dieses System auf mein „Heimatsystem“ DSA übertragen könnte.