Das Problem neuer Editionen

Vorweg – ich bin im Laufe der Jahre kein Freund neuer Editionen bei Rollen- oder Tabletopspielen geworden. Das liegt daran, dass ich in meiner „Nerd-Karriere“ mehrheitlich schlechte Erfahrungen mit neuen Editionen machte:

  1. Demonword (ein nicht übermäßig komplexes „Rank and File“ Tabletop-System mit Hexfeldern), scheiterte daran, die zweite Edition überhaupt erst vollständig zu veröffentlichen – es fehlten schlicht Armeebücher. Das haben Fans zwar nachgeholt, aber das System ist heute praktisch tot – obgleich es in der ersten Edition recht erfolgreich war und ich auch denke, dass die zweite Edition keine der weiter unter stehenden Probleme mit sich brachte.
  2. Shadowrun wurde von lange und mit viel Freude in der dritten Edition gespielt. Dann kam die Vierte – und Shadowrun war „raus“ bei uns: Zwar wurde die neue Regelmechanik bei uns durchweg begrüßt (es gab keine „explodierenden“ Würfel mehr), aber die Welt wurde im Rahmen des Editionswechsels angepasst. Statt Cyperpunk gab es nun Hightech. Das fanden ein paar Mitspieler inakzeptabel (ich nur unglücklich), und so verschwand Shadowrun aus meiner Welt. [Update 17. Mai 2023: Mittlerweile weiß ich, dass die sechste Edition offenbar von der Spielerschaft nicht angenommen wurde und die ganz überwiegende Mehrzahl der Spieler bei der fünften Edition geblieben ist. Die sechste Edition Shadowruns‘ muss daher als gescheitert gelten.]
  3. DSA. Die vierte Edition war bei uns bereits wenig gewollt – wir benötigten wohl sechs Jahre, bis wir umgestiegen waren. Gründe dafür waren auch wieder Änderungen an der Welt, die ungewollt waren: Plötzlich gab es weniger Lebensenergie und mit einem Schlag Schwertgesellen. Zudem waren Dämonen von einem Tag auf den anderen mit nicht-magischen Waffen zu verletzen. Es dauerte lange, bis diese Inkonsistenzen geheilt waren: Dämonen sind bei uns „de facto“ immer noch nur mit magischen (und geweihten) Waffen zu verletzen – weil bei uns praktisch jeder Dämonologe die Dämonen so ruft – nur Anfänger machen „von der Vereinfachung“ Gebrauch, es anders zu halten. Schwertgesellen waren lange nicht als SC zulässig und wurden behutsam in die Welt eingeführt. Die niedrigere Lebensenergie akzeptierten wir schließlich – man konnte im Gegenzug ja mehr Paraden haben. Gleichwohl kommt auch heute noch ab und an die Frage auf, warum die Lebensenergie eigentlich so niedrig sei, und dass dies doch unstimmig wäre.

    Schlimmer noch war die Einführung von DSA 5. Dies wird nunmehr von ein paar Freunden zwar experimentell gespielt – aber erst seit wenigen Wochen. Der weit größere Teil bleibt bei DSA 4. Für mich auch hier wieder vor allem deshalb, weil die Welt angepasst wurde: Mit einem Schlag waren Zauber von bestimmten Charakteren gar nicht mehr erlernbar, der, für das System ikonische, Reversalis wurde gleich ganz gestrichen.
  1. Warmahordes. Hier ist die jüngste Entwicklung noch nicht abgeschlossen, da die vierte Edition, MK IV, gerade erst im Entstehen begriffen ist. Man kann rückblickend aber feststellen, dass die Einführung der dritten Edition MKIII wahrscheinlich der größte Management-Fehler in der Tabletop-Geschichte gewesen sein dürfte: Das System war, je nach Quelle pari mit oder sogar vor dem Brachenprimus Warhammer – und stürzte durch die Einführung von MK III fast im freien Fall – in Europa und (mehr noch) in Asien fast bis in die Bedeutungslosigkeit. Dies vor allem deshalb, weil Modelle, die vormals gut waren, an Relevanz verloren und Modelle, die nun gut waren, von vielen nicht besessen wurden. Außerdem wurden einzelne Aspekte des Regelwerks vereinfacht.

    Bei der Einführung von MK IV werden Teile der Fehler wiederholt. Auch hier ist es wahrscheinlich, dass alte Modelle an Relevanz verlieren oder sogar, im Turnierbereich zumindest, gar nicht mehr zu Einsatz kommen können. Allerdings wird daneben ein Format angekündigt, in dem alle (auch alte) Modelle spielbar sein sollen.
  2. Warhammer Fantasy spiele ich nicht selbst. Gleichwohl weiß ich, dass es durch Age of Sigmar abgelöst wurde. Von einem Editionswechsel kann in diesem Zusammenhang die Rede kaum sein: Zwar gab es wohl formal eine Möglichkeit, alte Modelle weiterzuverwenden. Allerdings waren schon die Basen anders (rund statt vormals eckig). De facto aber war daher Age of Sigmar, so wie ich es verstehe, ein neue Spiel. In Extremfällen führte die zu so viel Verdruss bei den Spielern, dass diese ihre alten Armeen verbrannten. Für den Hersteller war es ebenfalls ein Fanal und trug meines Wissens maßgeblich zum Erfolge Warmahordes bei.

Analysiert man diese Fälle, so wird deutlich, was die Nachteile eines Editionswechsels sind:

  1. Eingriffe in die Welt – sei es, beim Rollenspiel, durch Neusetzungen, oder, beim Tabletop, durch eine Veränderung der Stärke der Einheiten. In beiden Fällen ist dies für die Glaubwürdigkeit der Spielwert fatal: Warum sollte, von einem Tage auf den anderen, z.B. der Zauber Reversalis nicht mehr existieren, obgleich er in vielen Publikationen eine Rolle spielt? Oder warum gewinnt eine Einheit im Tabletop erwartbar nicht mehr gegen eine andere, wo das doch vormals der Fall war? Aus meiner Sicht ist dieser Nachteil für Produkte, die das Eintauchen in eine Welt ermöglichen sollen, ganz erheblich.
  2. Entwertung von Sachwerten: Vor allem beim Tabletop werden Modelle, die vormals für teuer Geld erworben wurden, dem Spiel entzogen. Entweder tatsächlich, weil sie gar nicht mehr zulässig sind. Oder nur de facto, weil ihr Einsatz nicht mehr sinnvoll ist. Im Rollenspiel gilt das gleiche für Regelwerke, allerdings ist hier der monetäre Einsatz oftmals deutlich geringer. Dieser zweite Punkt ist die realweltliche Konsequenz des ersten.

Dem gegenübersteht ein maßgebliches Interesse des Herstellers, (dennoch) eine neue Edition zu veröffentlichen. Aufgrund des geringen Marktvolumens bei gleichzeitig geringem Marktwachstum ist dieser nämlich recht schnell gesättigt. Da die Produkte auch kaum einer realweltlichen Alterung oder Abnutzung unterliegen, stellt sich eine Marktsättigung ein.

Die geschilderten Produkteigenschaften sind jedoch, aus Konsumentensicht, ein maßgeblicher Vorteil! Als Kind erkannte ich, dass Rollenspiele mit geringem Geldaufwand praktisch ewige Freude gewährt – anders als das Videospielen, das regelmäßig den Kauf neure Spiele oder gar Hardware erforderlich macht.

Für die Produzenten stellt sich dennoch die Erfordernis, auch nach der Markteinführung noch Umsatz zu erwirtschaften. Die neue Edition ist daher als Wette zu verstehen: Entweder die neue Edition wird angenommen – dann ist für den Produzenten alles super und der Umsatz wieder einige Zeit gesichert. Oder sie scheitert. Dann sind möglicherweise – abhängig von Auflage, Verkaufszahlen und ob Crowd-Funding zur Finanzierung verwendet wurde – lediglich die Entwicklungskosten teilweise verloren. Es gibt also einen starken Anreiz, es mit einer neuen Edition zu versuchen.

Wir haben damit eine, aus meiner Sicht nahezu einmalige Situation, dass die Interessen von Produzent und Konsument nach einiger Zeit diametral auseinanderlaufen. Der ein oder andere mag einwenden, dass dies doch immer so sei, weil man ja auch immer wieder z.B. ein neues Mobiltelefon kaufen müsse. Das stimmt aber nicht: Das neue Mobiltelefon hat in der Regel auch weitere Funktionen. Wer mit seinem aktuellen Gerät zufrieden ist und das neue Display etc. nicht benötigt, kann ohne Weiteres mit dem Altgerät verbunden bleiben. Das neue Gerät bringt also einen konkreten Mehrwert. Es obliegt dem Kunden, ob er bereit ist, für diesen zu zahlen.

Bei Nerd-Spielsystemen ist das anders. Neue Editionen sind, meiner subjektiven Erfahrung nach, in aller Regel nur anders, nicht besser. Ob zum Beispiel DSA 5 DSA 4 überlegen ist oder vice versa, wird (noch immer) in zahlreichen Foren diskutiert. Zudem muss für das „Anders“ jede Menge Zeit für das Erlernen der neuen Regeln investiert werden. Meine Bereitschaft hierzu geht mittlerweile gegen null.

Die zunehmend (auch von mir selbst) gewählte Lösung (aus Konsumentensicht) ist, dass der Editionswechsel in der Regel nicht oder, wenn überhaupt, verzögert mitgegangen wird. Das klappt bei Rollenspiel sehr gut, weil man in der Regel auf die eigenen Gruppen beschränkt ist. Diese fungieren als weitgehend geschlossene Systeme, weswegen auch Hausregeln implementierbar sind.

Bei Tabletop-Systemen ist dies etwas schwieriger, weil diese von vielen auch auf Turnieren gespielt werden wollen. Daher braucht es einen Standard, der von allem akzeptiert ist. Das ist in der Regel die aktuelle Regelversion – auch wenn im Grunde nichts dagegen spricht, eine Veranstaltung nach dem alten Regelwerk zu organisieren. Ich für mich bin jedoch bei vielem ein „Legacy-Spieler“ (Wortschöpfungs eines Freundes) geworden.

Allein, fraglich dürfte sein, ob diese Strategie auch den Produzenten, und damit dem Hobby als Ganzem, nützt. Vermutlich langfristig nicht, oder nur dann, wenn immer neuere Spieler die Legacy-Spieler ersetzen.

Gibt es einen Mittelweg? Offenbar ja: Aus meiner Sicht ist Battletech ein System, dass seit Urzeiten im Wesentlichen unverändert besteht und offenbar noch immer profitabel ist. Meine Figuren und Regelwerke aus den frühen Neunzigern kann ich heute noch verwenden – die Regeländerungen sind, gerade im Kernbereich, dem Kampf mit Battlemechs, minimal. Dieser Erfolg könnte darauf zurückzuführen sein, dass das System in seiner Geschichte voranschreitet, hierbei neue Produkte veröffentlicht werden, gleichzeitig die alten Modelle aber nicht obsolet werden aber auch keine Abhängigkeiten dahingehend entstehen, als dass man sämtliche Entwicklungen und Modelle wissen müsste (anders als z.B. bei Warmahordes). Zudem ist das System auch außerhalb der Nerdszene über Computerspiele bekannt und hat dadurch immer neuen Zulauf – ich lerne immer wieder Leute kennen, die mit Battletech anfangen. Und fast jeder den ich kenne, hat es mal gespielt.

Grundsätzlich wäre selbstredend auch für andere Systeme erstrebenswert, weitere Spieler zu gewinnen. Wenn dies gelänge (insbesondere aber duurch die Produzenten, weil diese im Zugzwang stehen), wäre das Ursprungsproblem angegangen – der Markt würde breiter werden und wachsen. Ob dies realiter geschieht, ist meines Erachtens fraglich. Ergänzend erscheint es mir (auch daher) sinnvoll, dass die Produzenten über eine Nutzungsgebühr nachdenken, die für sinnvolle, aber mit geringen Grenzkosten einhergehende Services, verlangt werden kann. Dies sind typischerweise digitale Produkte. Zugang zu guten elektronischen Regel-Wiki könnten eine Idee sein. Auch VTT ist ein Schritt in diese Richtung; wobei ich glaube, dass LCD-Monitore als Tischplatten mit Karten auf die Figuren gestellt werden können etc. noch besser wären, vor allem weil zu viel Digitalisierung für viele abschreckend sein dürfte – was die Idee grundsätzlich erheblich erschwert. Zudem muss die Eigenarbeit für die Spieler minimiert werden. Im Ergebnis würde durch solche Gestaltungen aber ein konstanter, wenn auch vermutlich überschaubarer Umsatzstrom für die Produzenten generiert.

Sonst wird es eben weitergehen mit dem Teufelskreislauf der Editionswechsel. Vermutlich nicht zum Guten der Szene.